„Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du schon von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen? Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie sei heiß und fürchterlich.“

Franz Kafka (Schriftsteller):
Aus einem Brief an Oskar Pollak

 

Peter Schwarz freute sich auf seinen wohlverdienten Feierabend. Noch eine knappe Stunde, dann hatte er es für heute geschafft. In Frankfurt würde er abgelöst werden. Sein Sohn Jan feierte heute seinen achten Geburtstag. Er hatte ihm versprochen, pünktlich zu sein. Großes Indianerehrenwort! An seinem Cockpit im ICE Köln - München rauschte die rheinische Landschaft mit fast 300 Stundenkilometer vorbei, bald würde der Westerwald erreicht sein. Wie Schnecken schienen die Autos auf der parallel zur Schiene verlaufenden A3 zu kleben, während sein weiß-rotes Geschoss sich mit Hochgeschwindigkeit durch den schwülen Septembertag fraß und das Flimmermeer über der Betonpiste in zwei Hälften teilte.
Als Peter Schwarz den bunten Punkt sah, der sich plötzlich auf den Schienen erhob, wusste er, dass weder er noch der bunte Punkt eine Chance hatten. Und der bunte Punkt wollte auch gar keine Chance: Er bettelte um Erlösung, wie rund 1 000 bunte Punkte jedes Jahr.
„Verdammte Scheiße! Nicht schon wieder!“, brüllte Peter Schwarz voller Verzweiflung und Wut dem sich rasch nähernden Punkt entgegen. Sein ebenmäßiges, kantiges Gesicht mit den fast aristokratischen Zügen verzerrte sich zu einer Fratze. Unwillkürlich stemmte er sich mit seinem hageren Körper dem unvermeidbaren Schicksal entgegen. Schläfen und Wangen schoben sich bis auf wenige Zentimeter zusammen, ließen nur noch einen schmalen Sehschlitz offen. Seine grauen Augen fixierten wie ein Scharfschütze den bunten Punkt, der schnell, viel zu schnell menschliche Konturen annahm. Würde er die Augen schließen - im letzten Moment? Würde er hinstarren - bis es vorbei war? Endlich vorbei war? Peter Schwarz wusste es nicht.
Schon einmal, an diesem verfluchten 3. Mai vor fünf Jahren, hatte er einen Menschen überrollen müssen. An diesem Tag war auch sein Leben entgleist. Mehrere Monate lang hatten die verdammten Seelenklempner versucht, ihn wieder zu einem funktionierenden Teil der Arbeitswelt zu machen, ihm die furchtbaren Schuldgefühle zu nehmen. Und sie hatten ihn auch ganz gut wieder hinbekommen. Er hatte lernen müssen, dass er das unschuldige Opfer dieser Katastrophe war. Zusammen mit den Doktoren hatte Schwarz darum gekämpft, das Trauma vor seinem geistigen Auge zu verdrängen. Viele Nächte hatte er vor der Glotze gehockt, hatte Wiederholungen und dumme Serien geguckt, nur damit die schrecklichen Bilder endlich aus seinem Gedächtnis verschwanden. Mit seinem Gehirn hatte sich Peter Schwarz arrangiert, eine Art Waffenstillstand geschlossen. Und wenn von Zeit zu Zeit die grausamen Bilder versuchten, sich wie giftige Nattern unter seine Schädeldecke zu schlängeln, ließ er sich nichts anmerken. Um Gottes Willen, bloß keine Schwächen zeigen! Er liebte seinen ICE – und er hatte Angst, dass sie ihn für immer von seiner Lok runterzerren würden. Mit knapp 40 Jahren wollte er noch nicht entsorgt werden, für den Abtransport auf eine psychische Müllhalde war es doch noch viel zu früh!
Man hört, wenn ein Vogel gegen die Lok prallt. Aber dieses kurze dumpfe Plop, als er seinen ersten Menschen tötete, und die feinen Blutspritzer auf dem Lok-Fenster, die die toten Mücken und Fliegen überdeckten, die würde er trotz psychologischer Betreuung, Kur und Therapie nie vergessen. Er hatte viel gelesen, er wusste, dass mit dem erneuten Plop auch die alten Bilder wiederkommen würden. Flashbacks nennen Fachleute diese Erinnerungsblitze. Meist werden sie durch ein Ereignis ausgelöst, das nur eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Erlebnis hat. So stieß eine Frau mit einem Fahrradkurier zusammen, wurde zu Boden geschleudert, ihr Rock rutschte unanständig weit hoch und gab den Passanten den Blick auf ihr Darunter frei. Plötzlich wurde der Fahrradkurier für sie zu dem Junkie, der sie vor acht Jahren an einer Ampel mit einer Pistole gezwungen hatte, in sein Auto zu steigen, um sie zu vergewaltigen. Nein, einen solchen Flashback brauchte er, Peter Schwarz, nicht zu befürchten. Für ihn kam es noch schlimmer: Das verdrängte Ereignis würde sich in allen Einzelheiten wiederholen...
Pfeifen, Sanden, Vollbremsung - alles ist sinnlos, wenn einer gegen den Zug springt. Bei Tempo 250 beträgt der Bremsweg eines ICE bei einer Vollbremsung 2 300 Meter. Nein, das konnte, das würde nicht reichen. „Hau ab, du Arsch!“, schrie Peter Schwarz. „Hau endlich ab!“ Doch der bunte Punkt wollte und konnte ihn nicht hören.
Die tonnenschwere Wirbelstrombremse des ICE senkte sich bis auf wenige Millimeter auf die Schienen herab. Mit ungeheurer Gewalt bremste der elektrische Magnet den Hochgeschwindigkeitszug ohne Berührung der eisernen Fahrbahn ab. Millionen weißgelber Funken tobten neben den Rädern bis in die Radlager hinauf. Der ICE kreischte und stöhnte bei dieser brutalen Vergewaltigung durch seinen Lokführer nach vorne zuckend auf, ein Geräusch, als ob das Tor zur Hölle aufgerissen würde. Binnen Sekunden hatte der Stolz der Deutschen Bahn jede Würde verloren, wie ein störrisches Pferd vor einer zu hohen Trippelbarre schien der ICE den Kopf zu senken und in die Knie zu gehen.
Peter Schwarz konnte nichts mehr tun. Er konnte kein Lenkrad herumreißen, er konnte die Spur nicht verlassen, er konnte nicht ausweichen, er konnte den Bremsweg nicht verringern. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit war das Schlimmste. Wie hieß es doch in der Broschüre der Deutschen Bahn zu solchen Fällen? Peter Schwarz versuchte sich verzweifelt zu erinnern. „Du hast alles getan, was in Deiner Macht stand, aber du konntest nicht verhindern, was geschehen ist!“ Worte! Nichts als Worte! Genauso hilflos wie er. Peter Schwarz begann, den bunten Punkt zu hassen. Er wusste instinktiv, dass das kommende Plop sein Leben verändern würde. Nichts würde mehr sein wie jetzt. Sein Sohn Jan würde in wenigen Augenblicken einen anderen Vater bekommen, seine Frau einen anderen Mann.
Noch einmal würde er diese grauenvolle Erfahrung trotz medizinischer und psychologischer Betreuung nicht verkraften, er würde an dem Plop zerbrechen. Dabei lag er zahlenmäßig noch voll im Rennen, ging ihm zynisch durch den Kopf. Während seines Berufslebens überfährt laut Statistik jeder der 32 000 Lokführer der Deutschen Bahn auf dem 35 000 Kilometer langen Streckennetz zwei Menschen. Das sind 64 000 Tote - die Einwohnerzahl einer Kleinstadt. Seit 1917 gibt es bei der Bahn einen psychologischen Dienst für solche Extremfälle, 1994 wurde ein vorgeschriebenes Betreuungsprogramm eingeführt. Notfallmanager sollen sich am Unfallort um den Lokführer kümmern, Vertrauensleute ihn bei seiner späteren Rückkehr auf die Lokomotive begleiten. Das alles wusste Peter Schwarz, das alles hatte er schon erlebt. Doch dieses Wissen, diese Erfahrungen sind belanglos, wenn es wieder einmal soweit ist…
Der bunte Punkt war jetzt ganz nah. 150 Meter. Peter Schwarz erkannte einen Mann, der etwas Rechteckiges in den Händen hielt. 100 Meter. Ein alter Mann. 75 Meter. Ein alter Mann mit grauen Haaren. Der alte Mann schmiss das Rechteckige neben die Gleise. 50 Meter. Peter Schwarz schloss die Augen. „Warum tut er das nur?“ Die Frage brannte sich in sein Gehirn ein. „Warum?“ Auf einmal hasste er den bunten Punkt nicht mehr. Er hasste die Umstände oder die Menschen, die einen Menschen dazu bringen, sich selbst so tödlich zu hassen.
500 Meter nach dem dumpfen Plop kam der Intercity Express Köln – München zum Stehen. Peter Schwarz stieg aus. An seiner Lok war keine Delle zu erkennen. Bei diesen Geschwindigkeiten ist das fast nie der Fall. Den Blutteppich auf der schnittigen Zugnase, verwoben mit Hirnmasse und Knochenstückchen, nahm er kaum wahr. Ein bisschen Wasser aus dem Hochdruckschlauch – und schon würde nichts mehr an die Tragödie erinnern. Peter Schwarz ging weiter wie in Trance. Er stolperte über Leichenteile, die längs der Schienen verstreut lagen. Ein Bein. Das könnte ein Fuß gewesen sein. Waren das die Reste eines menschlichen Schädels? Starr vor Entsetzen setzte sich Peter Schwarz auf die Schienen, vergrub sein Gesicht in seine Hände. Fahrig fuhr er sich mit zitternden Händen immer wieder durch die Haare, so als wollte er das Entsetzen einfach wegkämmen. Roboterhaft griff er nach einem schwarzen, schweren Leitz-Ordner neben den Gleisen, aus dem einige weiße Blätter begannen, sich selbstständig zu machen. Warum er in dieser Situation anfing zu lesen, würde er nie erklären können. Er versank in eine ihm völlig unbekannte Welt. Die Schreie der Passagiere und das wenige Minuten später einsetzende Heulen der Unfallsirenen hörte er nicht. Eine blonde Rettungssanitäterin legte ihm tröstend eine kratzende Wolldecke über die Schultern und half ihm beim Einsteigen in den Krankenwagen.
„Geben Sie bitte her!“, ermahnte sie ihn freundlich, aber bestimmt.
„Nein“, schrie Peter Schwarz auf. Und wie Schraubstöcke umschlossen seine Hände den Leitz-Ordner und drückten ihn an seine schmächtige Brust. Peter Schwarz wusste plötzlich, was er nun tun musste...
„Unfall mit Personenschaden“ meldete die Deutsche Bahn am 6. September in einer knappen Pressemitteilung. Per Lautsprecheransage entschuldigte sich eine anonyme Stimme bei den wartenden Kunden für die „außerplanmäßige Verspätung“. Nach knapp einer Stunde gab die Polizei die Strecke wieder frei – zu eindeutig war der Fall. Einige Fahrgäste ließen sich die Verspätung per Stempel und Unterschrift bestätigen, um später von der Deutschen Bahn Gutscheine einzufordern. Der Nachrichtenagentur dpa war der bunte, zerfetzte Punkt nur 20 Zeilen wert: „Mann begeht Selbstmord auf ICE-Strecke“. Auf 31 Zeilen brachte es immerhin Reuters. Peter Schwarz und sein Leitz-Ordner aber wurden von beiden Nachrichtenagenturen nicht erwähnt.